Zugfahrt im Februarsommer

Auf meinem Schoß ein paar Notizzettel, mein Block, der Laptop, Unter der Sonne und B:Seite.

Mit einem schwarzen Kuli versuche ich ein paar Gedanken zu bändigen. Vorsichtig ausgewählt und anschließend auf Papier gebannt. Dort werden sie ruhen. Bis ich sie irgendwann wieder hervorhole. Dann tippe ich sie ab, schicke sie hinaus in die Welt. So dass sie in anderen Köpfen wieder zum Leben erwachen.

Der Platz mir gegenüber ist frei. Links davon sitzt eine ältere Dame. Sie liest Zeitung und lutscht Bonbons. Jeden einzelnen Artikel. Von der ersten bis zur letzten Seite. Auch die Werbung. Ihr Finger fährt auf der Zeitung mit. Nur manchmal huscht er in die Tasche, um mit einem weiteren Bonbon zurückzukommen. Eilig steckt sie es sich in den Mund.

Draußen scheint die Sonne. An wenigen Stellen noch Ãœberreste des Winters. Weiß-graue Flecken erzählen keine Geschichten. Sie liegen an ihren schattigen Plätzen und warten auf die Wärme. Ein verkümmertes Dasein, dessen Ende unausweichlich ist.

Der Herr neben mir liest ein Buch über Lungenkrebs. Manchmal beobachte ich ihn aus dem Augenwinkel. Er trägt eine Brille. Einen jugendlichen Pullover und eine Levis-Jean. Seine Schuhe sehe ich nicht. An der Wand hängt eine orange Jacke. Das Kapitel heißt Familie. Was in seinem Kopf vor sich geht? Vielleicht denkt er an seine zwölfjährige Tochter. Oder an seine Frau, die mit der Krankheit nicht fertig wurde und ihn verlassen hat. Gibt es in seinem Leben etwas, wofür es sich zu kämpfen lohnt? Gibt es das in irgendeinem Leben? Wie fühlt sich das an?

Ein weiteres Bonbon verschwindet. Gerade haben wir die Grenze überfahren. Das teilt mir zumindest die Nachricht auf meinem Handydisplay mit.

Ich schlage Unter der Sonne auf. Schnee. Die letzte Geschichte beginnt auf Seite 103. Gestern habe ich auf Stellplatz 13 geparkt.

Woher Kehlmann all die Namen nimmt. Ich mag Namen nicht. Nicht in meinen Texten. Sie verleiten zu Interpretationen, die nichts mit der Geschichte zu tun haben. Namen sind nur Schall und Rauch. Ohne Namen fällt es schwer mit mehreren Akteuren zu arbeiten. Ohne geht es nicht. Man muss sie nehmen. Gut überlegt oder spontan.

„Er war noch nie so glücklich gewesen.“ Ein Satz der das Leben bejaht. Danach schreit und Verzweiflung zeigt. Alle arbeiten darauf hin. Es ist nicht real.

Schauplatzwechsel. Das ist der Unterschied.

Die Frau ist gegangen. Er liest ein neues Buch. Leben! Auf der Rückseite steht: Diagnose sechs Wochen. Ich muss schlucken.

Rechts von mir packt jemand eine Kantwurst aus. Ãœbergewichtig. Vielleicht dreißig Jahre. Er stopft sie hastig in sich hinein. Keine Beilage. Nur Kantwurst. Nach vier Bissen ist sie weg.

Der Kuli hinterlässt einen Punkt auf der Rückseite meines Daumens. Ich war unaufmerksam. Durch die verdunkelten Scheiben im Waggon sehe ich eine Frau. Nicht viel jünger als ich. Unsere Blicke treffen sich. Ich weiche aus. Wann habe ich das letzte Mal zurückgelächelt? Eine zweite Kantwurst verschwindet. Er ruft seinen Freund an. Auf seiner Stirn haben sich Schweißperlen gebildet. Vielleicht ist es auch Fett, das aus den Poren quillt. Fußball heute Abend. Sicher nicht spielen. Auf seinem T-Shirt im Armylook steht es. Rapid Wien – Kämpft und siegt seit 1899. Er besiegt noch eine Kantwurst. Kampflos. Nun legt der den Kopf seitlich nach hinten. Als ob er ihn nicht mehr tragen könnte. Dabei ist nicht einmal ein Hals vorhanden.

B:Seite zieht mich weg. Der Zug und die Reisenden verschwinden. Ich lasse mich fallen. Sinken. Mitreißen.

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