Überkochen

Ich kann mich nur schwer im Sessel halten. Am liebsten würde ich aufspringen, ein paar Dinge durchs Zimmer treten, laut aufbrüllen, gegen die Wand schlagen und aus dem Fenster springen. Nur um den erstbesten Passanten an den Schultern rütteln um zu erfahren warum. Vielleicht sollte ich aber auch nicht gleich ausrasten, mir ein paar Minuten geben, das ganze überdenken, dann in den Zug steigen, oder besser ein Auto, ohne Rücksicht auf Geschwindigkeitsbegrenzungen Richtung Norden fahren um ein ein paar Stunden, noch nicht wirklich beruhigt, sondern die Wut zwischengespeichert in einer deutschen Stadt mit quietschenden Reifen stehen bleiben. Ich würde die Türe aufreißen, den Typen aus seinem Wagen zerren und ihn anschreien, was er sich dabei eigentlich denkt. Je nach vorhandenen Personen, die mich vor meinen nächsten Handlungen bewahren, indem sie mich festhalten und kaltes Wasser über den Kopf leere, würde ich weiter auf ihn losgehen. Es wäre mir egal, ob ich auch nur irgendetwas ausrichten könnte, ob ich mich strafbar mache oder er mich immer wieder gegen den harten Asphalt schleudert.

Nicht mehr ruhig sitzen. Gelähmtheit der Machtlosigkeit.

Die letzten Wochen waren voller Stress. Ich bin selten vor zwei ins Bett gekommen und meist zwischen fünf und sechs aufgestanden. Um mein bestes zu geben. Um allen zu helfen, alle zufrieden zu stellen. Nicht darauf achtend, was für mich wichtig ist. Für die anderen. Ich glaube, dass es das richtige ist. Dass ich selbst nur zähle, wenn ich es für andere tue. Als Freund. Als Mitarbeiter. Als Sohn.

Übertreiben. Bis man sich nicht mehr erinnern kann, wann man das letzte Mal geschrieben hat. Alles ist so weit weg. Die eigene Welt. Sie ist stehen geblieben, weil man versucht sich in anderen zu etablieren. Das eigene Wertsystem nur noch ein Artefakt auf einem riesigen Bild. Ein Video, das sich ständig bewegt und langsam die Farbe verliert. Gezeichnet von fremden Einflüssen. Vom Glauben der anderen.

Meine Wangen glühen. Ich spüre meine kalten Hände. Sie drücken den Kopf zusammen, zerren an den Haaren, verkrampfen sich im Fleisch. Der Schmerz beruhigt. Holt mich wieder in meinen Stuhl zurück. Flimmernde Bilder vor meinen Augen. Er liegt am Boden. Blaulicht. Immer wieder werde ich geblendet. Leere Gesichter. Eine Stimme hinter mir sagt, dass dies keine Lösung ist. Ich will es nicht hören. Nur die Ruhe. Sein röcheln, während er auf die Liege gehievt wird. Zwei Santäter stehen neben ihm, ein Polizist wartet darauf, dass ich seine Frage beantworte, ich setze mich auf den Boden. Er ist noch warm von der Abendsonne. Der Wind lässt die Sträuche sanft schaukeln. Mein Atem hat sich beruhigt, irgendjemand hat das Auto auf die Seite gestellt. Es ist vorbei.

Drei Jahre Einsamkeit und 50.000€ Schmerzensgeld.

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